BFH-Rechtsprechung

Stand: 2. Mai 2024

Inhaltsverzeichnis

1 Bindungswirkung
2 Anwendung von BFH-Urteilen
2.1 Grundsatz
2.2 Vertrauensschutz nach § 176 AO
2.3 Nichtanwendungserlass
2.4 Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidungen des BFH
3 Literaturhinweise
4 Verwandte Lexikonartikel

1. Bindungswirkung

In einem finanzgerichtlichen Verfahren (→ Finanzrechtsweg) ergangene und rechtskräftig gewordene Entscheidungen binden nur die am Rechtstreit Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger (§ 110 Abs. 1 FGO). Parallelfälle werden nicht erfasst. Höchstrichterliche Entscheidungen entfalten keine verbindliche Bindungswirkung in späteren ähnlich gelagerten Fällen. Zwar orientieren sich untere Gerichte sowie die Verwaltung regelmäßig an höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Entscheidungen, rechtlich verpflichtet sind sie dazu aber nicht. Lediglich Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden nach § 31 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.

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§ 110 Abs. 2 FGO ist dahingehend auszulegen, dass die Rechtskraft eines Urteils Vorrang gegenüber den Änderungsvorschriften der AO hat (BFH vom 4.3.2020, II R 11/17, BStBl II 2021, 155).

2. Anwendung von BFH-Urteilen

2.1. Grundsatz

Die zur amtlichen Veröffentlichung freigegebenen Entscheidungen werden nach entsprechender Neutralisierung (Anonymisierung; Entfernen von Hinweisen auf den konkreten Steuerpflichtigen zur Wahrung des Steuergeheimnisses (→ Steuergeheimnis)) und nach Bildung eines Leitsatzes, der die Kernaussage der Entscheidung wiedergibt, in der von den Mitgliedern des Bundesfinanzhofs herausgegebenen – sog. amtlichen – Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFHE – veröffentlicht.

Sofern diese Urteile bzw. Beschlüsse des BFH im BStBl Teil II veröffentlicht werden, werden die Finanzämter angewiesen, diese Entscheidungen auch in vergleichbaren Fällen anzuwenden. Die Vfg. der OFD Karlsruhe vom 14.1.2005 (FG-2032/1 A – St 332, FR 2005, 223, LEXinform 0579030) nimmt zur Anwendung von BFH-Entscheidungen durch die Finanzverwaltung Stellung. Danach werden die zur Veröffentlichung im BStBl Teil II vorgesehenen BFH-Entscheidungen vorab auf den Internet-Seiten des BMF veröffentlicht. Die zum Abdruck im BStBl II bestimmten BFH-Entscheidungen sind damit bereits ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung im Internet allgemein anzuwenden.

Die Unvollständigkeit der BFH-Entscheidungen im BStBl liegt u.a. daran, dass diejenigen steuerrechtlichen Entscheidungen, die die Finanzverwaltung (noch) nicht anwenden will, nicht oder erst nach längerer Zeit (dann oft im Zusammenhang mit einem Nichtanwendungserlass) im BStBl abgedruckt werden.

2.2. Vertrauensschutz nach § 176 AO

§ 176 AO schützt das Vertrauen des Stpfl. in die Gültigkeit einer Rechtsnorm, der Rspr. eines obersten Gerichtshofs des Bundes oder einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift (z.B. EStR). Unter Aufhebung und Änderung ist jede Korrektur einer Steuerfestsetzung nach §§ 164, 165, 172 ff. AO oder nach den Einzelsteuergesetzen zu verstehen (vgl. AEAO vor §§ 172 bis 177, Nr. 3), aber nicht die Berichtigung nach § 129 AO (AEAO zu § 176, Nr. 1).

Bei Änderung der Steuerfestsetzung ist so vorzugehen, als hätte die frühere für den Stpfl. günstige Rechtsauffassung nach wie vor Gültigkeit. Ist z.B. eine Steuer unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt worden (§ 164 AO), so muss eine dem Stpfl. günstige Rspr. des BFH, die bei der Vorbehaltsfestsetzung berücksichtigt worden war, auch dann weiter angewendet werden, wenn der BFH seine Rspr. zum Nachteil des Stpfl. geändert hat (AEAO zu § 176, Nr. 2).

§ 176 Abs. 2 AO gewährt keinen Änderungsschutz, wenn der BFH eine dort bezeichnete Verwaltungsvorschrift erst nach dem Erlass des angefochtenen Änderungsbescheids als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet (BFH vom 24.8.2023, V R 49/20, n.v., DB 2023, 2672).

Der BFH hatte mit seinem Urteil vom 6.12.2007 (V R 3/06, BStBl II 2009, 203) über die Vorsteuerberichtigung nach § 17 UStG nach erfolgter Rechnungsberichtigung zu entscheiden. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt wurde die für eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer berichtigt. Der bereits in Anspruch genommene Vorsteuerabzug sollte entsprechend berichtigt werden. Mit Urteil vom 2.4.1998 (V R 34/97, BStBl II 1998, 695) hatte der BFH aber entschieden, dass nur der tatsächlich geschuldete Steuerbetrag als Vorsteuer abziehbar sei. Der Steuerbescheid für das Kj. 1995 wurde am 19.8.1998 vom Finanzamt erlassen und zwar mit Zustimmung zum begehrten Vorsteuerabzug. Die Rechnungsberichtigung erfolgte am 26.3.1997. Mit Bescheid vom 27.2.2001 korrigierte das Finanzamt den Umsatzsteuerbescheid 1997 um die für das Kj. 1995 abgezogene Vorsteuer aus der Geschäftsveräußerung.

Mit Urteil vom 6.12.2007 (V R 3/06, BStBl II 2009, 203) hat der BFH entschieden, dass die Voraussetzungen für eine Vorsteuerberichtigung für das Kj. 1997 nicht gegeben waren. Allerdings ist aus Gründen des Vertrauensschutzes § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO zu beachten. Diese Vorschrift gebietet, den Stpfl. weiterhin so zu stellen, wie er nach der bisherigen Rechtsprechung zu besteuern gewesen wäre (hier: Abziehbarkeit der nach § 14 Abs. 2 UStG 1993 geschuldeten Steuer im USt-Bescheid für 1995 und Berichtigung nach § 14 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 17 UStG im USt-Bescheid der Jahres der Berichtigung der Rechnung im Kj. 1997).

Der USt-Bescheid für 1995 stand unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Die Festsetzungsfrist für die USt 1995 begann mit Ablauf 1998 (Abgabe der USt-Erklärung) und endete mit Ablauf des Kj. 2002. Im Kj. 2001 – mit Änderung des USt-Bescheids für das Kj. 1997 – war die Frist noch nicht abgelaufen und die Festsetzung für das Kj. 1995 stand weiterhin unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (→ Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung). Die Vorbehaltsfestsetzung entfällt nach § 164 Abs. 4 AO erst wegen Ablaufs der Festsetzungsverjährung. § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO gilt auch für unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassene Bescheide. Die Vorschrift geht davon aus, dass eine geänderte Rechtsprechung auf alle noch nicht abgeschlossenen Steuerfälle anzuwenden ist, selbst wenn sich die Sachverhalte zu einer Zeit ereignet haben, in der noch die günstigere Rechtsprechung galt. § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO schützt nur das Vertrauen in die Bestandskraft der Steuerfestsetzung, in der die Finanzbehörde die günstigere (alte) Rechtsprechung zugrunde gelegt hat.

Geändert hat sich die Rechtsprechung nicht schon dann, wenn das betreffende Gericht die Entscheidung gefällt hat; d.h. das Entscheidungsdatum ist unerheblich. Maßgeblich ist vielmehr, ob im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts, der geändert werden soll, zu einem gleichen Sachverhalt und/oder derselben Rechtsfrage die geänderte Rechtsprechung bereits veröffentlicht ist. Ist vor Erlass des Bescheides die Entscheidung zur Veröffentlichung freigegeben und in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden, greift § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO jedenfalls nicht mehr ein.

Tag der Freigabe des BFH-Urteils vom 2.4.1998 (V R 34/97, BStBl II 1998, 695) war der 6.8.1998 und die Entscheidung ist bereits unter dem 14.8.1998 in DStR 1998, 1261 veröffentlicht worden. Alle Zeitpunkte liegen vor dem 19.8.1998; dies ist der Tag, an dem das Finanzamt den Steuerbescheid für die Umsatzsteuer 1995 erlassen hatte.

2.3. Nichtanwendungserlass

Als ein sog. Nichtanwendungserlass wird ein Schreiben des BMF bezeichnet, das im BStBl Teil I veröffentlicht wird. Damit werden die Finanzbehörden angewiesen, die enthaltenen Grundsätze einer bestimmten, gleichzeitig im BStBl II veröffentlichten Entscheidung des BFH, nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden. Überwiegend sind hiervon Entscheidungen betroffen, deren Rechtsgrundsätze sich günstig für die Steuerpflichtigen auswirken würden. Da die Nichtanwendungserlasse nur die Finanzverwaltung, nicht aber die Steuerpflichtigen und die Gerichte binden, werden häufig vergleichbare Fälle mit erneuten Gerichtsverfahren vor den BFH gebracht, um diesem Gelegenheit zu geben, seine Rechtsauffassung und die des Bundesfinanzministeriums erneut zu prüfen. Das Bundesfinanzministerium tritt diesen Verfahren regelmäßig bei, um selbst seinen Rechtsstandpunkt vorzubringen. Für den Fall, dass der BFH bei seiner Rechtsauffassung bleibt, wird regelmäßig der Nichtanwendungserlass aufgehoben.

2.4. Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidungen des BFH

Die Mehrzahl der Entscheidungen des BFH wird nicht zur amtlichen Veröffentlichung freigegeben. Dies ist gerechtfertigt, weil viele Entscheidungen keine über den Einzelfall hinaus bedeutsamen oder grundsätzlichen Aussagen enthalten. Auch diese Entscheidungen werden veröffentlicht. Dies beruht darauf, dass in der Besteuerungspraxis ein Bedürfnis besteht, möglichst sämtliche Entscheidungen des BFH, auch die nicht zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten, vollständig der Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Entscheidungen werden in der Sammlung der Entscheidungen BFH/NV veröffentlicht. In diesen Fällen gilt es, die Finanzverwaltung in gleichgelagerten Fällen davon zu überzeugen, die Rechtsfrage über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden.

Tatsächlich nicht veröffentlicht werden nur diejenigen Entscheidungen, die nicht dokumentationswürdig sind, d.h. die keine in irgendeiner Weise bedeutsame Aussage enthalten.

3. Literaturhinweise

Spindler, Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, 1061; Jörißen, Die verschiedenen Möglichkeiten der Veröffentlichung von Urteilen der Finanzgerichtsbarkeit und ihre Bedeutung für die Steuerpraxis, Steuer & Studium 2008, 81.

4. Verwandte Lexikonartikel

Finanzrechtsweg

Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung

Steuergeheimnis

 

Redaktioneller Hinweis:© Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft, Steuern, Recht, Stuttgart.

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