1 Überblick über § 165 AO
2 Die Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 AO
2.1 Allgemeines
2.2 Vorläufige Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Musterverfahren – koordinierter Ländererlass
2.3 Vorläufige Festsetzung des Solidaritätszuschlags
2.4 Vorläufige Festsetzung der Kirchensteuer
2.5 Aussetzung der Zinsfestsetzung
2.6 Vorläufige Steuerfestsetzung von Leibrenten und anderen Leistungen aus der Basisversorgung nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG
3 Inhaltliche Bestimmtheit eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO
4 Endgültigkeitserklärung
5 Geänderter Vorläufigkeitsvermerk
6 Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist
7 Konkurrenz zwischen vorläufiger Steuerfestsetzung und rückwirkendem Ereignis
8 Aussetzung der Vollziehung bei vorläufiger Steuerfestsetzung
9 Literaturhinweise
10 Verwandte Lexikonartikel
Nach § 165 AO ist eine vorläufige Steuerfestsetzung unter folgenden Voraussetzungen vorzunehmen:
§ 165 Abs. 1 Satz 1 AO |
§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AO |
§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO |
§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO |
§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO |
Soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. Zweifel bei der Auslegung des Steuergesetzes reichen dabei nicht aus. Eine Steuerfestsetzung kann nur im Hinblick auf ungewisse Tatsachen für vorläufig erklärt werden. |
Die Tatsache, dass ein Doppelbesteuerungsabkommen nach seinem Inkrafttreten voraussichtlich rückwirkend anzuwenden sein wird, rechtfertigt eine vorläufige Steuerfestsetzung, um dem Stpfl. die Vorteile des Doppelbesteuerungsabkommens zu sichern. |
Eine vorläufige Steuerfestsetzung setzt voraus, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits ergangen ist und die gesetzliche Neuregelung noch aussteht. |
Die Vereinbarkeit einer der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Rechtsnorm mit höherrangigem Recht (z.B. Grundgesetz oder Europäisches Unionsrecht) muss bereits Gegenstand eines Musterverfahrens bei dem Europäischen Gerichtshof, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht sein. |
Die Auslegung eines Steuergesetzes muss Gegenstand eines Verfahrens beim BFH sein. |
Abb.: Vorläufige Steuerfestsetzung
Nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kann eine Steuerfestsetzung bzw. eine gesonderte (und ggf. einheitliche) Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vorläufig erlassen werden, soweit die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist. Nach den in der Verwaltungspraxis gesammelten Erfahrungen kann durch eine auf diese Vorschrift gestützte vorläufige Steuerfestsetzung der Einlegung von Masseneinsprüchen allerdings nur unzureichend begegnet werden, insbes. dann, wenn eine strittige Frage (wie z.B. die Frage der Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen) sowohl unter verfassungsrechtlichen als auch unter »einfachgesetzlichen« Aspekten zu beurteilen ist. Nr. 4 in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO soll eine vorläufige Steuerfestsetzung deshalb auch dann ermöglichen, wenn wegen einer »einfachgesetzlichen« Rechtsfrage ein Verfahren beim BFH anhängig ist. Die Entscheidung über die Anwendung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO sollen aber – ebenso wie bisher schon bei Anwendung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO – die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder durch BMF-Schreiben oder gleichlautenden Ländererlass treffen. Damit soll gewährleistet werden, dass diese Regelung bundeseinheitlich und auch nur in »Massen-Fällen« angewandt wird.
Folgende Festsetzungen der Einkommensteuer sind im Hinblick auf anhängige Musterverfahren aufgrund des BMF-Schreibens vom 15.1.2018 (BStBl I 2018, 2), zuletzt geändert durch das BMF-Schreiben vom 28.3.2022 (BStBl I 2022, 203), gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm hinsichtlich folgender Punkte vorläufig vorzunehmen:
Höhe der kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 Sätze 1 und 2 EStG,
Besteuerung von Leibrenten und anderen Leistungen aus der Basisversorgung nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG,
Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste nach § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG (§ 20 Abs. 6 Satz 5 EStG a.F.).
Die bisherige Nr. 2. »Abzug einer zumutbaren Belastung (§ 33 Abs. 3 EStG) bei der Berücksichtigung von Aufwendungen für Krankheit oder Pflege als außergewöhnliche Belastung« wird mit sofortiger Wirkung gestrichen. Ein Ruhenlassen außergerichtlicher Rechtsbehelfsverfahren kommt insoweit nicht mehr in Betracht.
Ferner sind im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtliche Festsetzungen des Solidaritätszuschlags für die Veranlagungszeiträume ab 2005 hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 vorläufig gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorzunehmen (BMF vom 28.3.2022, BStBl I 2022, 203). → Aussetzung der Vollziehung ist in vergleichbaren Fällen nicht zu gewähren. Für die Veranlagungszeiträume ab 2020 erfasst dieser Vorläufigkeitsvermerk auch die Frage, ob die fortgeltende Erhebung eines Solidaritätszuschlages nach Auslaufen des Solidarpakts II zum 31.12.2019 verfassungsgemäß ist.
Nach dem Urteil des BFH vom 17.1.2023 (IX R 15/20, BStBl II 2023, 351) war der Solidaritätszuschlag in den Jahren 2020 und 2021 noch nicht verfassungswidrig. Der BFH ist von der Verfassungswidrigkeit der seit 26 bzw. 27 Jahren erhobenen Ergänzungsabgabe nicht überzeugt, weshalb eine Vorlage an das BVerfG gem. Art. 100 Abs. 1 GG unterbleiben musste.
Für eine Klage gegen den Bescheid über Solidaritätszuschlag für 2020, mit der die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags geltend gemacht wird, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Steuerfestsetzung wegen dieses Punktes vorläufig ist und beim Bundesverfassungsgericht bereits ein einschlägiges Musterverfahren (hier: 2 BvR 1505/20) anhängig ist (BFH vom 26.9.2023, IX R 16/22, BFH/NV 2024, 24).
Ferner sind im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtliche Festsetzungen der Kirchensteuer hinsichtlich der Höhe der kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG vorläufig gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorzunehmen. → Aussetzung der Vollziehung ist in vergleichbaren Fällen nicht zu gewähren.
Die Steuerverwaltungen der Länder können die Neuberechnung der Zinsen in anhängigen Verfahren und die Umstellung der Zinsberechnungsprogramme aufgrund der damit verbundenen erheblichen technischen und organisatorischen Auswirkungen allerdings nicht sofort nach Inkrafttreten der Neuregelungen umsetzen. Daher regelt das BMF in seinem Schreiben vom 22.7.2022 (BStBl I 2022, 1220) Folgendes: »Für die Zwischenzeit enthält Art. 97 § 15 Abs. 16 EGAO deshalb eine Übergangsregelung: Solange die Neuregelung in § 238 Abs. 1a und 1b AO technisch und organisatorisch noch nicht umgesetzt werden kann, können Zinsfestsetzungen nach § 233a AO für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 ungeachtet der am 22.7.2022 in Kraft getretenen Neuregelungen weiterhin vorläufig ergehen oder ausgesetzt werden (Art. 97 § 15 Abs. 16 EGAO i.V.m. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Satz 4 sowie Abs. 2 AO).«
In betroffene Zinsbescheide ist folgender Erläuterungstext aufzunehmen: »Die Festsetzung von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen nach § 233a AO für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 ist gem. Art. 97 § 15 Abs. 16 EGAO i.V.m. § 165 Abs. 1 Satz 4 und Satz 2 Nr. 2 AO ausgesetzt. Die Aussetzung der Zinsfestsetzung erfolgt, weil die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 8.7.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, BGBl I, S. 4303, geforderten Neuregelungen zur Vollverzinsung noch nicht vorliegen. Sobald diese Voraussetzungen vorliegen, wird die Festsetzung von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen geprüft und gegebenenfalls nachgeholt. Für Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 ergeht die Festsetzung von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen endgültig.«
Der Vorläufigkeitsvermerk ist sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen für Veranlagungszeiträume ab 2005 beizufügen, in denen eine Leibrente oder eine andere Leistung aus der Basisversorgung nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG erfasst wird. Eine mögliche Zuvielbelastung von Alterseinkünften muss nach der Rspr. des BFH vom Stpfl. belegt werden (ständige Rspr. des BFH, s. BFH vom 21.6.2016, X R 44/14, BFH/NV 2016, 1791 und vom 19.5.2021, X R 20/19, BFH/NV 2021, 980; Verfassungsbeschwerde eingelegt, Az. des BVerfG: 2 BvR 1143/21). Eine Überprüfung von Amts wegen durch die Finanzämter ohne Mitwirkung der betroffenen Stpfl. ist nicht möglich.
Das BVerfG hat mit dem Nichtannahmebeschluss vom 7.11.2023 (2 BvR 1143/21) wie folgt geurteilt: »Liegt zu den mit einer Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen bereits Rspr. des BVerfG vor, so ist zu ihrer hinreichend substanziierten Begründung gem. §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG u. a. erforderlich, dass der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den darin entwickelten Maßstäben begründet wird (vgl. BVerfG vom 10.11.2015, 1 BvR 2056/12, BVerfGE 140, 229).«
Die Vorläufigkeit ist auf die ungewissen Voraussetzungen zu beschränken und zu begründen. Ein punktuell wirkender Vorläufigkeitsvermerk, der keine Angaben über den Umfang der Vorläufigkeit enthält und bei dem dieser für den Stpfl. auch weder aufgrund seines dem Erlass des Bescheides vorausgehenden Verhaltens noch aufgrund des Inhalts der Steuererklärung oder des Bescheides erkennbar ist, ist unwirksam, selbst wenn Gegenstand des Bescheides nur eine Einkunftsart ist (BFH Urteil vom 12.7.2007, X R 22/05, BStBl II 2008, 2).
Für die Reichweite eines Vorläufigkeitsvermerks kommt es darauf an, wie der Adressat den materiellen Regelungsgehalt nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (BFH Urteil vom 14.9.2017, IV R 28/14, BFH/NV 2018, 1).
Ein Vorläufigkeitsvermerk, der auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO und auf die Besteuerungsgrundlage hinweist, hinsichtlich derer die Steuer vorläufig festgesetzt wird, ist inhaltlich nach Grund und Umfang hinreichend bestimmt. Es ist nicht erforderlich, die betragsmäßige Auswirkung der vorläufigen Festsetzung anzugeben und die anhängigen Musterverfahren nach Gericht und Aktenzeichen zu bezeichnen. Es reicht der Hinweis auf eine Besteuerungsgrundlage aus, wenn dadurch jedenfalls mittelbar der Rahmen abgesteckt ist, innerhalb dessen die Steuerfestsetzung änderbar sein soll (BFH Urteil vom 27.11.1996, BStBl II 1997, 791).
Ein solcher Vorläufigkeitsvermerk beschränkt sich nicht auf die zum Zeitpunkt anhängigen Verfahren. Sind die Verfahren, die der Vorläufigkeit zugrunde liegen, beendet und ist die vorläufige Festsetzung noch nicht für endgültig erklärt, bleibt die Festsetzung vorläufig, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist unter Beachtung der Ablaufhemmung des § 171 Abs. 8 Satz 2 AO wieder ein einschlägiges Verfahren anhängig wird. Die angeordnete Vorläufigkeit hat dann dadurch wieder eine Rechtsgrundlage. Dass bei Erlass des vorläufigen Steuerbescheides der konkrete Zeitpunkt nicht bekannt ist, zu dem die Ungewissheit entfällt, liegt in der Natur der Sache und kann die Rechtswidrigkeit oder gar Nichtigkeit eines Vorläufigkeitsvermerks nicht begründen (BFH Urteil vom 30.9.2010, BStBl II 2011, 11).
Die vorläufige Steuerfestsetzung kann jederzeit für endgültig erklärt werden. Die Vorläufigkeit bleibt bis dahin bestehen. Eine vorläufige Steuerfestsetzung kann gem. § 165 AO nur durch ausdrückliche Erklärung endgültig i.S.v. § 165 Abs. 2 AO werden. Ein Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 AO bleibt auch dann wirksam, wenn er in einem nachfolgenden, auf eine andere Änderungsvorschrift gestützten Änderungsbescheid nicht ausdrücklich wiederholt wird (BFH Urteil vom 9.9.1988, III R 191/84, BStBl II 1989, 9).
Durch das Steuerbürokratieabbaugesetz vom 20.12.2008 (BGBl I 2008, 2850) wurde in § 165 Abs. 2 ein neuer Satz 3 aufgenommen, der klarstellen soll, wann in den Fällen einer vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO die Ungewissheit endet. Die Entscheidung des BFH in dem für die Anwendung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO maßgebenden Musterverfahren begründet allein keine Bindung für gleich gelagerte Fälle, denn sie gilt nur zwischen den Verfahrensbeteiligten. Die Ungewissheit wird erst beseitigt, wenn durch Veröffentlichung der Entscheidung im BStBl oder durch Erlass einer Allgemeinverfügung nach § 367 Abs. 2b AO (→ Allgemeinverfügung, Erledigung von Massenanträgen und -einsprüchen) feststeht, dass die Grundsätze der Entscheidung über den vom BFH entschiedenen Fall hinaus auf alle vergleichbaren offenen Fälle anzuwenden sind.
In den Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO muss eine vorläufige Steuerfestsetzung nur auf Antrag des Stpfl. für endgültig erklärt werden, wenn sie nicht aufzuheben oder zu ändern ist (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO).
Wird die vorläufige Steuerfestsetzung nach Beseitigung der Ungewissheit geändert (§ 165 Abs. 2 Satz 2 AO), sind im Rahmen des Änderungsbetrages auch solche Fehler zu berichtigen, die nicht mit dem Grund der Vorläufigkeit zusammenhängen (BFH Urteil vom 2.3.2000, VI R 48/97, BStBl II 2003, 332; AEAO zu § 165 Nr. 9, BStBl I 2008, 26).
Das Finanzamt bestimmt durch einen geänderten Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 AO, der in einem Änderungsbescheid enthalten ist und an die Stelle eines dem Erstbescheid beigefügten Vorläufigkeitsvermerks tritt, den Umfang der Vorläufigkeit neu (BFH Urteil vom 19.10.1999, IX R 23/98, BStBl II 2000, 282, AEAO zu § 165 Nr. 7, BStBl I 2016, 160; vgl. auch BFH vom 16.6.2020, VIII R 12/17, BStBl II 2020, 702; LEXinform 0951479; AEAO zur § 165 Nr. 7, BMF vom 20.1.2021, BStBl I 2021, 128). Dies gilt auch, wenn ein sowohl auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO als auch auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestützter Vorläufigkeitsvermerk im Änderungsbescheid durch einen allein auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestützten Vorläufigkeitsvermerk ersetzt wird (BFH Urteil vom 14.7.2015, VIII R 21/13, BStBl II 2016, 371).
Bei einer vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewissheit Kenntnis erhalten hat (§ 171 Abs. 8 Satz 1 AO). Bei einer vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren, nachdem die Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewissheit Kenntnis erlangt hat (§ 171 Abs. 8 Satz 2 AO). Die Ablaufhemmung beschränkt sich dabei auf den für vorläufig erklärten Teil der Steuerfestsetzung.
Eine Ungewissheit, die Anlass für eine vorläufige Steuerfestsetzung war, ist beseitigt, wenn die Tatbestandsmerkmale für die endgültige Steuerfestsetzung feststellbar sind. »Kenntnis« i.S.d. § 171 Abs. 8 AO verlangt positive Kenntnis der Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewissheit, ein »Kennenmüssen« von Tatsachen steht der Kenntnis nicht gleich (BFH Urteil vom 26.8.1992, II R 107/90, BStBl II 1993, 5; AEAO zu § 171 Nr. 5, BStBl I 2008, 26; BFH Urteil vom 16.5.2006, VIII B 160/05, BFH/NV 2006, 1477). So auch BFH Urteil vom 4.9.2008, IV R 1/07, BStBl II 2009, 335 und Urteil vom 21.8.2013, X R 20/10, BFH/NV 2014, 524.
Zur Ablaufhemmung bei »Liebhaberei« vgl. BFH Urteil vom 4.9.2008, IV R 1/07, BStBl II 2009, 335. Die zunächst bestehende Ungewissheit über die Einkünfteerzielungsabsicht ist beseitigt, wenn der Betrieb verkauft wird. Die Jahresfrist des § 171 Abs. 8 Satz 1 AO beginnt zu dem Zeitpunkt, in dem das Finanzamt Kenntnis vom Verkauf des Betriebes erhalten hat, z.B. mit Abgabe der Steuererklärung, in der der Veräußerungsgewinn erklärt wird. (vgl. auch BFH Urteil vom 19.1.2011, BFH/NV 2011, 745-746). Diese Grundsätze gelten auch bei Betriebsaufgabe, nicht jedoch bei einer Umstrukturierung (vgl. BFH Urteil vom 21.8.2013, X R 20/10, BFH/NV 2014, 524). Zum Wegfall der Ungewissheit bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung einer Ferienwohnung vgl. das Urteil des FG Münster vom 21.2.2018 (7 K 288/16, EFG 2018, 613).
Die wegen fehlender Anknüpfungstatsachen bestehende Ungewissheit hinsichtlich der behaupteten Vermietungsabsicht ist nicht i.S.v. § 171 Abs. 8 AO beseitigt, solange eine zukünftige Vermietung nicht ausgeschlossen ist und der Stpfl. Maßnahmen ergreift, die darauf gerichtet sind, die Vermietung zu ermöglichen oder zu fördern (BFH Urteil vom 16.6.2015, IX R 27/14, BStBl II 2016, 144). Das FA ist bei ungewisser Vermietungsabsicht zur Änderung einer vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO auch dann befugt, wenn sich eine neue Tatsachenlage allein durch Zeitablauf ergeben hat. Kommt es über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren nicht zu der angeblich beabsichtigten Vermietung, ist es regelmäßig nicht zu beanstanden, wenn die Vermietungsabsicht verneint wird.
Nach dem BFH-Urteil vom 10.5.2007 (IX R 30/06, BStBl II 2007, 807) kann das Finanzamt eine nach § 165 Abs. 1 AO vorläufige Steuerfestsetzung nach Ablauf der Frist des § 171 Abs. 8 AO nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern, wenn das die Ungewissheit beseitigende Ereignis (§ 165 Abs. 2 AO) zugleich steuerrechtlich zurückwirkt.
Für die beiden Änderungsmöglichkeiten laufen unterschiedliche Fristen. Nach § 171 Abs. 8 AO (Ablaufhemmung) endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Ungewissheit beseitigt ist und die Finanzbehörde hiervon Kenntnis erhalten hat. Versäumt das Finanzamt die Änderung in der für die Vorläufigkeitsfestsetzung geltenden Frist, kann es ggf. noch auf die Änderungsmöglichkeit wegen eines rückwirkenden Ereignisses zurückgreifen. Nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt die Festsetzungsfrist in Bezug auf das rückwirkende Ereignis mit Ablauf des Kj., in dem das Ereignis eintritt (→ Änderung von Steuerbescheiden nach § 175 AO).
In Fällen der vorläufigen Steuerfestsetzung gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 AO (»Vorläufigkeitskatalog«) kommt eine Aussetzung der Vollziehung nur in Betracht, soweit die Finanzbehörden hierzu durch BMF-Schreiben oder gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder angewiesen worden sind. Der bisher bestehende Grundsatz der Nichtgewährung einer Vollziehungsaussetzung galt in den Fällen der geltend gemachten Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen. Ein Antrag auf AdV, der mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit oder Unionsrechtskonformität des der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Gesetzes begründet wird, ist abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls dem erforderlichen besonderen Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kein Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit oder Unionsrechtskonformität bedarf es in diesen Fällen grundsätzlich nicht. Dem Aufhebungsinteresse des Antragstellers ist nicht allein aufgrund der Befassung des BVerfG oder des EuGH der Vorrang einzuräumen (BFH Urteil vom 25.11.2014, VII B 65/14, BStBl II 2015, 207). Durch die Möglichkeit der Vorläufigkeitsfestsetzung, wenn die einfachgesetzliche Auslegung eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens beim BFH ist, ist bei entsprechender Anweisung der Finanzbehörden die → Aussetzung der Vollziehung denkbar.
Bergan und Martin, Vorläufige Festsetzung von Zinsen nach § 233 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO, NWB 30/2019, 2230; L’habitant, Vertrauensschutz bei vorläufiger Festsetzung von Erstattungszinsen, NWB 31/2019, 2283; Rätke, Klage wegen Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags, Kommentierte Nachricht BBK 22/2023, 990.
→ Änderung von Steuerbescheiden nach § 175 AO
→ Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden
→ Rücknahme und Widerruf von sonstigen Verwaltungsakten gem. §§ 130 und 131 AO
→ Zinsen
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