1 Rechtscharakter des § 32b EStG und Berechnungsschema
1.1 Die Grundregel
1.2 Anwendungsbereich
1.3 Allgemeine Berechnungsgrundsätze
2 Die Lohn- und Ersatzleistungen des § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG
2.1 Ausgeschlossene Ersatzleistungen
2.2 Enthaltene Ersatzleistungen
2.3 Besonderheiten
2.3.1 Rückzahlung von Lohn-/Einkommensersatzleistungen
2.3.2 Rückwirkende Bewilligung
2.3.2.1 Erstattungsanspruch der Krankenkasse
2.3.2.2 Steuerfreiheit aller Beträge
2.3.3 Bescheinigungen
2.3.3.1 Reguläre Ersatzleistungen
2.3.3.2 Automatischer Datenabgleich in Sonderfällen
2.3.4 Die Veranlagungsart
3 Steuerfreie/Nicht steuerbare Auslandseinkünfte
3.1 Der bilaterale »Auslöser«: Die Freistellungsmethode nach Doppelbesteuerungsabkommen
3.2 Die Umsetzung der Freistellungsmethode in nationales Recht – Grundzüge
3.2.1 Der Grundtatbestand des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG
3.2.2 Die Grenzpendler-Regelung
3.2.3 Die Organschaftsregelung
3.2.4 Die zeitweise unbeschränkte Steuerpflicht
4 Einzelheiten zur Berechnung des besonderen Steuersatzes gem. § 32b Abs. 2 EStG
4.1 Progressionsvorbehalt und Grundfreibetrag
4.2 Negativer Progressionsvorbehalt
4.3 Außerordentliche Einkünfte
4.4 Einkünfte aus Kapitalvermögen
5 Literaturhinweise
6 Verwandte Lexikonartikel
Entsprechend dem Aufbau des EStG, das zwischen der Ermittlung der → Bemessungsgrundlage (zu versteuerndes Einkommen = z.v.E.) und der tariflichen → Einkommensteuer unterscheidet (vgl. § 2 Abs. 5 Satz 1 EStG), sind in der Einkommensteuer ganz allgemein die horizontale Ebene des Steuerrechts (Bemessungsgrundlage) und die vertikale Ebene (linear-progressiver Steuertarif) zu trennen.
So münden bestimmte Komponenten des Einkommens nicht in die erste Festsetzungsgröße (z.v.E.), weil sie entweder innerstaatlich ausgenommen sind (§ 3 EStG) oder aufgrund von bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) »steuerbefreit« sind.
Nach dem (noch) herrschenden Steuerrechtsverständnis wird der Grundsatz der individuellen Leistungsfähigkeit dadurch verwirklicht, dass – in den meisten Fällen – die steuerbefreiten Komponenten erst beim Steuersatz, d.h. der Progression, berücksichtigt werden (§ 32b Abs. 2 EStG). Somit weichen in den Fällen des § 32b EStG die Besteuerungsgrundlagen und die Steuersatzbemessungsgrundlagen voneinander ab. Die befreiten Einkommenskomponenten werden nur beim Steuersatz bzw. -tarif berücksichtigt. Hierfür hat sich der Ausdruck »Progressionsvorbehalt« bzw. »Tarifvorbehalt« eingebürgert.
Vorstehende Grundsätze kommen nur zur Anwendung, wenn der Steuerpflichtige
Letzteres ist z.B. bei → Kapitalgesellschaften nicht der Fall, da dort ein einheitlicher Steuersatz (→ Körperschaftsteuertarif) angewandt wird.
Zur Anwendung des Progressionsvorbehalts gelangen zwei große Gruppen, die untereinander keine Gemeinsamkeiten aufweisen.
Unter § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG lassen sich inländische Lohn- und Einkommensersatzleistungen subsumieren (erste Gruppe), während in einer zweite Gruppe Auslandseinkünfte (→ Ausländische Einkünfte) erfasst werden, die
Das Berechnungsschema hierzu sieht wie folgt aus (vgl. H 32b [Allgemeines] EStH mit einem Vergleich zweier → Steuerpflichtiger, wovon A Ersatzleistungen bei ansonsten gleichem Einkommen wie B erhält):
(1) Ermittlung des z.v.E.
Sachverhalt | Steuerpflichtiger A | Steuerpflichtiger B |
z.v.E. (§ 2 Abs. 5 EStG) | 20 000 € | 20 000 € |
(2) Berechnung Steuersatz (§ 32b Abs. 2 EStG)
Steuerpflichtiger A | Steuerpflichtiger B | |
Arbeitslosengeld | 5 000 € | |
Bemessungsgrundlage für Berechnung Steuersatz | 25 000 € | 20 000 € |
Steuer (VZ 2020) | 3 714 € | 2 346 € |
Steuersatz | 14,856 % | 11,73 % |
(3) Berechnung der Steuer (für A)
Der Steuersatz von 14,856 % wird auf das z.v.E. von 20 000 € angewandt. Die tarifliche ESt beträgt 20 000 € × 14,856 % = 2 971 €.
Bei Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit (→ Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit) kann der Arbeitnehmer-Pauschbetrag ab dem VZ 2007 bei der Ermittlung der dem Progressionsvorbehalt unterliegenden Einkünfte nur noch insoweit berücksichtigt werden, als er nicht bereits bei der Ermittlung der (steuerpflichtigen) Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit abgezogen worden ist. Zudem können → Werbungskosten, die mit den steuerfreien Arbeitseinkünften zusammenhängen, nur noch insoweit abgezogen werden, als die gesamten Werbungskosten den Arbeitnehmer-Pauschbetrag übersteigen (§ 32b Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 EStG).
Einzelheiten zur Berechnung des Steuersatzes s. Tz. 4.
Der Anwendungsbereich des § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG ist abschließend definiert und enthält nach § 3 EStG befreite Lohnersatzleistungen (→ Steuerfreie Einnahmen nach dem EStG, ABC-Form).
Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nachfolgende steuerbefreite Leistungen nicht dem Progressionsvorbehalt unterliegen, da sie in § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht aufgeführt sind:
Die genannten Lohn- und Ersatzleistungen werden vollkommen ohne jedwede »Steuerberührung« bezogen.
Unter § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG fallen somit:
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum JStG 2020 hatte der Bundesrat in seiner Stellungnahme um Evaluierung der Wirkungen des Progressionsvorbehaltes im Zusammenhang mit dem Kurzarbeitergeld gebeten. So sollte geprüft werden, ob steuerschädliche Effekte, insbesondere im Zuge der Corona-Krise, vermieden werden können (vgl. BR-Drs. 503/20 Beschluss Seite 23). Eine Anpassung des § 32b EStG im Rahmen des JStG 2020 erfolgte jedoch nicht.
Gem. R 32b Abs. 3 EStR werden zurückgezahlte Ersatzleistungen (z.B. aufgrund eines Rechtsstreits) im Rückzahlungsjahr von den Leistungsbezügen abgezogen, unabhängig davon, ob diese im Jahr ihres Bezugs dem Progressionsvorbehalt unterlegen haben (s. Fall B zu H 32b [Allgemeines] EStH).
Für den Fall, dass sich durch die Rückzahlung ein negativer Betrag ergibt (Bsp.: höhere Rückzahlungen als erhaltene Leistungsbeträge), ist der Minus-Betrag im Rahmen des sog. negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.
Insbes. bei der Rente kann es zu rückwirkenden Bewilligungen kommen. Hierfür ist grundsätzlich § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis) anwendbar.
Problematisch sind jedoch die Folgewirkungen, z.B. für das bislang gebilligte Krankengeld.
Soweit der Kasse ein → Erstattungsanspruch gegenüber dem Rentenversicherungsträger zusteht, ist das bisher gezahlte Krankengeld als Rentenzahlung zu behandeln mit der Folge, dass der Ertragsanteil nach § 22 Nr. 1 Satz 3a EStG besteuert wird; das Krankengeld selbst unterliegt nicht dem Progressionsvorbehalt (R 32b Abs. 4 Nr. 1 EStR).
Sind die gezahlten und die die Rentenleistung übersteigenden Krankengeldbeträge nach § 3 Nr. 1 Buchst. a EStG steuerfrei, so greift für diese Leistungen der Progressionsvorbehalt des § 32b EStG.
Der Steuerpflichtige (ArbN) ist zur Angabe der steuerfreien Leistungen in der → Steuererklärung verpflichtet.
Zur Vereinfachung sieht § 32b Abs. 3 EStG vor, dass der Sozialleistungsträger eine Bescheinigung zur Vorlage beim Finanzamt erstellt (hauptsächlicher Anwendungsbereich: Ausfallzeiten). Seit 2018 erfolgt eine elektronische Übermittlung der mitteilungspflichtigen Stelle an die zuständige Finanzbehörde (vgl. auch § 93c AO).
Bei Zweifeln über die Angaben des ArbN kann das Finanzamt gem. R 32b Abs. 5 EStR vom Arbeitsamt eine Negativbescheinigung anfordern.
Nach § 32b Abs. 4 EStG erfolgt bei Insolvenzgeldauszahlung an Dritte (Abtretung des Anspruchs seitens des ArbN an Dritte) eine Datenfernübertragung der relevanten Daten an die amtliche Übermittlungsstelle. Gleichzeitig ergeht hierüber eine Information an den ArbN, der weiterhin → Steuerpflichtiger bleibt.
Bei Ehegatten, von denen ein Ehegatte Lohn-/Einkommensersatzleistungen bezieht, ist immer eine Vergleichsberechnung durchzuführen, ob der Splittingtarif bei Zusammenveranlagung größere Vorteile bringt als der ggf. leer laufende Progressionsvorbehalt bei einer Einzelveranlagung der Ehegatten i.S.d. § 26a EStG.
Neben der Anrechnungsmethode kommt als weitere Methode zur Vermeidung der internationalen → Doppelbesteuerung die Freistellungsmethode in Betracht (Art. 23A OECD-MA). Sie ist nur anzuwenden, wenn sie im DBA selbst vorgesehen ist. Die ausländischen Einkünfte werden danach im Ansässigkeitsstaat steuerfrei gestellt, jedoch bei der Bemessung des Steuersatzes i.R.d. Progressionsvorbehaltes gem. § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG berücksichtigt. Die Freistellungsmethode greift nach den deutschen DBA meist bei ausländischen Einkünften
Beim Progressionsvorbehalt des § 32b EStG findet eine Trennung zwischen der Ebene der horizontalen Steuergerechtigkeit (Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen) und der vertikalen Steuergerechtigkeit (Tarif) statt. Ohne dass die Besteuerungsgrundlagen tangiert sind, wird auf das unangetastete z.v.E. der Steuersatz angewendet, der sich unter Einbeziehung bestimmter steuerfreier Einkünfte ergibt (sog. besonderer Steuersatz). Art und Höhe der dem Progressionsvorbehalt unterliegenden Einkünfte werden nach deutschem Steuerrecht ermittelt, H 32b [Ausländische Einkünfte] EStH.
Der Progressionsvorbehalt im internationalen Steuerrecht greift grundsätzlich in den Fällen des:
Der (positive und negative) Progressionsvorbehalt des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG fand bis VZ 2008 auf Einkünfte aus allen EU/EWR-Staaten und Drittstaaten Anwendung. Mit dem JStG 2009 wurde der uneingeschränkte Anwendungsbereich des Progressionsvorbehalts für bestimmte EU/EWR-Tatbestände, die nach DBA steuerfrei sind, im Zusammenhang mit der Änderung der Verlustnutzungsbeschränkung des § 2a EStG (→ Steuerfreie negative Einkünfte nach § 2a EStG) ausgeschlossen (§ 32b Abs. 1 Satz 2 und 3 EStG). U.a. sind Einkünfte aus
bei der Ermittlung des inländischen Steuersatzes nicht mehr zu berücksichtigen. Die Vorschrift ist ab dem VZ 2008 anzuwenden.
Die Wirkungsweise von § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG wird anhand eines Beispiels zu DBA-steuerfreien Einkünften aufgezeigt.
Beispiel 1:
Einzelunternehmer E erzielt im → Inland mit dem Stammhaus ein z.v.E. von 70 000 €, das sich vorwiegend aus gewerblichen Einkünften zusammensetzt. Er unterhält in einem DBA-(Dritt-)Land eine → Betriebsstätte, in der – vergleichbar Art. 7 Abs. 1 OECD-MA – befreite Einkünfte i.H.v. 20 000 € erzielt werden. In welcher Höhe hat E → Einkommensteuer im VZ 2018 zu zahlen?
Für die Anwendung des Progressionsvorbehalts auf die abkommensbefreiten Einkünfte ist es nicht erforderlich, dass das Doppelbesteuerungsabkommen den Progressionsvorbehalt explizit vorsieht.
Lösung 1: (VZ 2020)
Ermittlung des Steuersatzes:
z.v.E. | 70 000 € |
für den Steuersatz maßgebliches z.v.E. (+ 20 000 €) | 90 000 € |
hierfür beträgt die tarifliche ESt gem. § 32a Abs. 1 Nr. 4 EStG | 28 836 € |
ergibt einen durchschnittlichen Steuersatz von | 32,04 % |
Berechnung der Steuer des E:
Anwendung des Steuersatzes auf das z.v.E. von 70 000 € = | 22 428 € |
im Vergleich dazu beträgt die Steuer lt. Grundtabelle (ohne § 32b EStG) | 20 436 € |
Bei einem echten Steuervergleich muss natürlich die im → Ausland bezahlte Steuer berücksichtigt werden. Bei Auslandsengagements qua Betriebsstättenniederlassung in Niedrigsteuerländern lässt sich unschwer der Steuervorteil errechnen. Allerdings sind in diesem Fall zusätzlich die Regelungen zur → Hinzurechnungsbesteuerung nach AStG zu berücksichtigen, wonach es zu einem Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode kommen kann (§ 20 Abs. 2 AStG).
Die Freistellung mit Progressionsvorbehalt führt dann zu einer echten Freistellung, wenn es für das betreffende Steuersubjekt keine Steuerprogression gibt. Dies ist etwa bei → Kapitalgesellschaften mit dem konstanten Steuersatz von 15 % der Fall.
Hinweis:
Es bestehen keine Bedenken, dass der Progressionsvorbehalt auch bei Beteiligungseinkünften einer ausländischen Personengesellschaft Anwendung findet, wenn die Personengesellschaft im Ausland als juristische Person besteuert wird (BFH Beschluss vom 4.4.2007, I R 110/05, DStR 2007, 1073).
Losgelöst von § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 EStG wird der Progressionsvorbehalt gem. § 32b Abs. 1 Nr. 5 EStG auf die Auslandseinkünfte der Grenzpendler (§ 1 Abs. 3 EStG), der Ehegatten von EU/EWR-Ausländern (§ 1a EStG) sowie der beschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmer i.S.d. § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 EStG erstreckt. Diese Einkünfte werden dann in die Ermittlung des Steuersatzes einbezogen, wenn sie nicht der deutschen ESt unterlegen haben. Auch nur einem Steuerabzug (→ Abzugsteuer bei beschränkter Einkommensteuerpflicht) unterliegende Einkünfte sind bei der Berechnung des Steuersatzes einzubeziehen.
Vom Progressionsvorbehalt ausgenommen sind jedoch Einkünfte, die nach einem sonstigen zwischenstaatlichen Übereinkommen (z.B. Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18.4.1961, BGBl II 1964, 957) ohne Progressionsvorbehalt steuerfrei sind (§ 32b Abs. 1 Nr. 5 letzter Halbsatz EStG).
Mit § 32b Abs. 1a EStG hat im Jahre 1999 der Progressionsvorbehalt auch die → Organschaft erreicht.
Beispiel 2:
Zur inländischen KG (Organträgerin) gehört als Organgesellschaft eine AG (Sitz im Inland), die Auslandsaktivitäten im DBA-Staat X mittels einer → Betriebsstätte erzielt. Das DBA-X sieht die Steuerbefreiung der Betriebsstätten-Gewinne vor.
Mit der Begründung einer Organschaft (i.S.d. § 14 KStG) werden ausländische Betriebsstätten-Einkünfte der Organgesellschaft bei dieser steuerfrei vereinnahmt, um gleichzeitig qua Gewinnabführungsvertrag (GAV) dem Einkommen des Organträgers zugerechnet zu werden. Bis 1998 kamen diese umgewandelten Einkünfte (aus DBA-steuerfreien Einkünften wurden GAV-Einkünfte) beim Organträger an, ohne dass bei diesem der Progressionsvorbehalt zum Tragen kam.
Lösung 2:
Durch die Einfügung von § 32b Abs. 1a EStG mit dem StEntlG 1999/2000/2002 wird fingiert, dass die DBA-steuerfreien Einkünfte der Organtochter (AG) unmittelbar von der Organmutter (KG) bezogen werden. Für die KG gilt danach § 32b EStG unmittelbar.
Bei Wegzug oder Zuzug in einem Kalenderjahr, wenn also der Steuerbürger im Veranlagungszeitraum nur zeitweise unbeschränkt steuerpflichtig ist, greift der Sondertatbestand des § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG. In diesem Fall kommt die Alternative des Progressionsvorbehalts zum Tragen, nach der die ausländischen Einkünfte i.R.d. Steuersatzes bei der deutschen → Veranlagung zu berücksichtigen sind.
Zwei Grundkonstellationen für die Zeit der fehlenden unbeschränkten Steuerpflicht (ausländischer Wohnsitz und Aufenthalt) sind dabei zu unterscheiden:
Durch die ausdrückliche Einbeziehung des § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG (nur eine → Veranlagung beim Wechsel der Steuerpflicht) ist für die Fallgruppe (2) sichergestellt, dass der Emigrant/Immigrant mit Inlandseinkünften durch die Anwendung des Progressionsvorbehalts entsprechend seiner Leistungsfähigkeit besteuert wird. Bei der Berechnung des Steuersatzes sind auch vorab entstandene Werbungskosten (z.B. Umzugskosten), die mit einer beabsichtigten nichtselbstständigen Tätigkeit im Ausland zusammenhängen, zu berücksichtigen (BFH Urteil vom 20.9.2006, I R 59/05, BFH/NV 2007, 346; vgl. auch BMF 3.5.2018 (IV B 2 – S 1300/08/10027, BStBl I 2018, 643) zur steuerlichen Behandlung des Arbeitslohns bei DBA).
Die Vorschrift des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gilt jedoch auch für Fälle, in denen in der »nicht-deutschen« Zeit des Veranlagungszeitraumes keine inländischen Einkünfte i.S.d. § 49 EStG vorliegen, hier also für die Fallgruppe (1) (BFH Urteil vom 19.12.2001, I R 63/00, BStBl II 2003, 302 und BFH Urteil vom 15.5.2002, I R 40/01, BStBl II 2002, 660).
In beiden oben genannten Fallgruppen sind folglich ausländische Einkünfte i.S.d. § 34d EStG, die im Veranlagungszeitraum nicht der deutschen ESt unterlegen haben, im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.
Vom Progressionsvorbehalt ausgenommen sind jedoch Einkünfte, die nach einem sonstigen zwischenstaatlichen Übereinkommen (z.B. Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18.4.1961, BGBl II 1964, 957) ohne Progressionsvorbehalt steuerfrei sind (§ 32b Abs. 1 Nr. 2 letzter Halbsatz EStG, eingefügt durch das JStG 2007).
Der Progressionsvorbehalt kann dazu führen, dass bei einem zu versteuernden Einkommen, das unterhalb des Grundfreibetrages liegt, Einkommensteuer anfällt.
Beispiel 3:
Ein Stpfl. hat ein z.v.E. in Höhe von 5 000 €. Er erzielte Einkünfte in Höhe von 10 000 €, die aufgrund eines DBA in Deutschland steuerfrei sind.
Lösung 3:
Zu versteuerndes Einkommen | 5 000 € |
Aufgrund DBA steuerfrei | 10 000 € |
Für die Berechnung des Steuersatzes maßgebend (§ 32b I Nr. 3) | 15 000 € |
Steuer nach Grundtarif (VZ 2020) | 1 085 € |
durchschnittlicher Steuersatz (bezogen auf 15 000 €): | 7,2333 % |
Die Anwendung des durchschnittlichen Steuersatzes auf das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 32a Abs. 1 EStG (5 000 €) ergibt als tarifliche Einkommensteuer 361 €. Es fällt also Einkommensteuer an, obwohl das zu versteuernde Einkommen unter dem Grundfreibetrag liegt.
Der BFH führt dazu in seinem Urteil vom 9.8.2001 (III R 50/00, BStBl II 2001, 778) aus:
»… die Tarifvorschriften des § 32a Abs. 1 Satz 2 EStG sind nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nur ‘vorbehaltlich der §§ 32b, 34 und 34b’ anzuwenden. Das bedeutet, dass der Progressionsvorbehalt des § 32b EStG dem § 32a Abs. 1 Satz 2 EStG im Range vorgeht …. Der Grundfreibetrag ist nicht als sachliche Steuerbefreiung ausgestaltet, sondern ist Teil der Tarifvorschriften«.
Das Tatbestandsmerkmal »Einkünfte« i.S.d. § 32b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG entspricht dem Einkünftebegriff aus § 2 Abs. 2 EStG, sodass auch negative Einkünfte zu erfassen sind. Negative Einkünfte, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen, mindern somit im Ergebnis den Steuersatz, es sei denn, es bestünde ein Verlustausgleichsverbot (z.B. gem. § 2a EStG). Ausländische Verluste können folglich zu einem Steuersatz von Null führen (H 32b [Ausländische Verluste] EStH).
Beispiel 4:
Zu versteuerndes Einkommen | 15 000 € |
Aufgrund DBA steuerfreie Einkünfte (für die § 2a EStG nicht greift) | ./ 10 000 € |
Für die Berechnung des Steuersatzes maßgebend | 5 000 € |
Steuer nach Grundtarif | 0 € |
durchschnittlicher Steuersatz | 0 % |
Tarifliche ESt gem. § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG = 15 000 € × 0 % = 0 € |
Gem. § 32b Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 EStG werden bei der Berechnung des besonderen Steuersatzes etwaige außerordentliche Einkünfte der §§ 34, 34b EStG nur mit einem Fünftel berücksichtigt. Trifft die Vorschrift des § 32b EStG (positiver sowie negativer Progressionsvorbehalt) mit der Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 EStG zusammen, ist eine integrierte Steuerberechnung durchzuführen; beide Regelungen sind im Rahmen einer Günstigerprüfung nebeneinander anzuwenden (BFH Urteil vom 15.11.2007, VI R 66/03, DStR 2008, 241; BFH Urteil vom 17.1.2008, VI R 44/07, DStR 2008, 499, BFH Urteil vom 22.9.2009, IX R 93/07, BFH/NV 2010, 296).
Unter den Begriff »außerordentliche Einkünfte« i.S.d. §§ 32b Abs. 2 Nr. 2, 34 Abs. 2 EStG fallen nur positive Einkünfte. Negative Einkünfte sind daher bei der Berechnung des Steuersatzes in voller Höhe abzuziehen, s. BFH Urteil vom 1.2.2012, I R 34/11, BStBl. II 2012, 405 und H 32b [Ausländische Verluste] EStH.
Kapitalerträge i.S.d. § 32d Abs. 1 und § 43 Abs. 5 EStG sind bei der Berechnung des Steuersatzes nicht zu berücksichtigen, s. § 2 Abs. 5b EStG. Gleiches gilt für Kapitalerträge, die nicht der Besteuerung im Inland unterliegen, aber im Falle einer Besteuerung im Inland dem besonderen Steuersatz des § 32d Abs. 1 EStG von 25 % unterliegen würden. Diese Kapitalerträge werden zwar vom Wortlaut des § 2 Abs. 5b EStG nicht erfasst. Eine systematische Auslegung von § 2 Abs. 5b i.V.m. § 32b Abs. 2 EStG gebietet es jedoch, derartige Kapitalerträge nicht im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen (Kühling/ Gühne, NWB 2011, 226). Für Fälle der erweitert beschränkten Einkommensteuerpflicht i.S.d. § 2 AStG enthält § 2 Abs. 5 Satz 1 AStG eine entsprechende Regelung.
Kapitaleinkünfte sind demnach nur dann im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu erfassen, wenn sie im Falle ihrer Steuerpflicht mit dem allgemeinen Tarif gem. § 32a EStG besteuert werden würden (Fälle des § 32d Abs. 2 EStG; Antrag auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG).
Jacob, Abkommensrechtliche Fragen der Einbeziehung inländischer Einkünfte in die einheitliche Veranlagung nach § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG, FR 2002, 1113; Siegel/Korezkij, Zur Beziehung zwischen Fünftelregelung und Progressionsvorbehalt – Zufallsprinzip oder Relevanz der Wirkung bei Lückenfüllung im Steuerrecht?, DStR 2005, 577; Grotherr, International relevante Änderungen durch das JStG 2007 anhand von Fallbeispielen, NWB 2006, Fach 3 Gruppe 3, 1445; Beck, Auswirkungen von Verlusten ausländischer Betriebsstätten auf die Höhe des Einkommensteuersatzes – Zum Abzugsverbot nach § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG und dessen Verhältnis zum negativen Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG, IStR 2007, 53; Eggesieker/Ellerbeck, Fünftelregelung und Progressionsvorbehalt, DStR 2007, 1281; Siegel/Diller, Fünftelregelung und Progressionsvorbehalt: Eine Stellungnahme, DStR 2008, 178; Siegel/Diller, Anmerkung zum BFH-Urteil vom 17.1.2008, DStR 2008, 244; Nacke, Die einkommensteuerlichen Änderungen durch das Jahressteuergesetz 2009, DB 2008, 2792; Rupp in Preißer/Pung, Besteuerung der Personen- und Kapitalgesellschaften, 2012, E II3, S. 1368 f.; Kühling/ Gühne, Kein Progressionsvorbehalt für Kapitaleinkünfte ab Veranlagungszeitraum 2009, NWB 2011, 226 ff.
→ Steuerfreie Einnahmen nach dem EStG, ABC-Form
Redaktioneller Hinweis:© Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft, Steuern, Recht, Stuttgart.
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